DER SPIEGEL 39/2000  CAROLIN EMCKE, CHRISTOPH MESTMACHER
über "Hans und Carla" = Pseudonyme; später traten sie unter ihren Realnamen Matthias und Gunda auf.

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RECHTSEXTREMISMUS
 
"Benzin und Streichholz"

Erstmals gewähren drei Aussteiger einen Einblick in die Neonazi-Szene. Mit Mühe entkamen sie einer kriminellen Schattenwelt, in der bierselige Glatzen und glühende Hitler-Verehrer dem Germanenkult frönen. Jetzt müssen sie sich vor Gericht für etliche Straftaten verantworten.

Die Schatten der Vergangenheit hängen immer noch in der Wohnung. Da ist der drei Quadratmeter große schwarze Sternenhimmel im Wohnzimmer, wo früher die Hakenkreuzfahne an die Wand gemalt war. Da sind die beiden schneeweißen Kleckse an der Decke, die jene Rußspuren verbergen, die die Öllampen rechts und links vom Hitler-Relief hinterlassen haben. Im Schlafzimmer, wo heute das Filmplakat des Tarantino-Klassikers "From Dusk Til Dawn" hängt, prangten früher Hitler, Heydrich und Heß.

"Schrecklich" findet Carla, 36, jene Zeit. Ihre Tochter Tina, 17, "will mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun haben". Hans, 24, der Kopfmensch, sucht vergeblich nach einer Erklärung, die irgendwie wissenschaftlich klingt: "Damals kamen wohl Benzin und Streichholz zusammen." Wegen möglicher Racheakte aus der Szene hat der SPIEGEL die Namen der Aussteiger verändert.

Es ist noch kein Jahr her, dass die Tochter, die Mutter und deren Verlobter im inneren Zirkel der deutschen Neonazi-Szene steckten: Sie fuhren mit Schläger-Skins auf Demonstrationen, erlebten bedingungslosen Führerkult und nahmen an konspirativen Sonnenwendfeiern teil. Sie fachsimpelten mit verurteilten Straftätern und führenden Neonazis über das "Vierte Reich". Mutter und Tochter schändeten einen jüdischen Friedhof.

Bald schon stehen sie in Mainz vor Gericht. Auf einen Anwalt verzichten sie, verteidigen könne man ihre Straftaten nicht. Carla, Tina und Hans sind Aussteiger, die die rechte Szene aus eigenem Antrieb verlassen haben.

Im SPIEGEL berichten die drei erstmals von Zirkeln und Ritualen, die der Öffentlichkeit bislang verborgen waren; sie erzählen aus einer Welt, in der Anführer und Ideologie des mörderischen Nazi-Systems in einem Gewirr von Gruppen und Grüppchen verehrt und verbreitet werden.

Sie erlebten die Nähe zwischen der NPD, ihrer Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) und gewaltbereiten Skins. Diese symbiotische Beziehung zwischen der vermeintlich biederen Partei und militanten, neonazistischen Skingruppen wie "Blood and Honour" (Blut und Ehre), mittlerweile in Deutschland verboten, veranlasst die Innenminister von Bund und Ländern, ein Verbot der NPD zu prüfen.

Das Trio hatte Zugang zu streng abgeschirmten Organisationen wie der "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige" (HNG) oder der "Artgemeinschaft", beide als eingetragene Vereine steuerbegünstigt. In der Artgemeinschaft predigt der einschlägig vorbestrafte Neonazi Jürgen Rieger, 54, die artgleiche Vermehrung.

Offen sprechen die drei auch über die finstere Faszination der Glatzen und ihrer Einpeitscher. Sie fühlten sich aufgehoben und zugehörig. Vor allem aber glaubten sie sich anderen Menschen überlegen. Farbigen brüllten Mutter und Tochter "Nigger" hinterher, im Supermarkt nahm Hans keine Cornflakes-Packung, die zuvor eine Ausländerin berührt hatte.

Die Geschichte der drei Aussteiger illustriert, wie schnell der Einstieg in die Szene vollzogen ist, wie umfassend sich das braune Netz eines Lebens bemächtigt.

Die üblichen Erklärungsmuster reichen dabei nicht aus, das Phänomen Rechtsextremismus zu entschlüsseln. Denn das Trio mag zwar nicht in Musterfamilien groß geworden sein, aber keiner von ihnen kommt aus dem sozialen Elend. Sie stammen aus der Mitte der deutschen Normalität.

"Wir waren keine Opfer von irgendwelchen Umständen", erklären Carla und Hans übereinstimmend. In ihrem Leben sei zwar einiges schief gelaufen, so Carla, "aber es gab genug Situationen in denen ich hätte sagen müssen: 'Horch mal, du bist 35 Jahre alt. Stopp!'"

Mit der totalen Hingabe, die früher der braunen Szene galt, widmen sie sich jetzt ihrem Ausstieg. Über die Internet-Homepage "nazis.de", einer Selbsthilfe-Seite, haben sie Unterstützung gefunden.

Carla sitzt vor dem Computer und beantwortet unermüdlich elektronische Post. Eine jüdische Briefpartnerin aus dem Internet hatte soeben Zweifel an Carlas Ausstiegswillen geäußert. Da stürzt der Rechner ab. Carla ist aufgelöst. Weint. Sie schüttelt den Kopf und verflucht mit tränenerstickter Stimme die Technik.

Carla weint oft. Wegen der Erinnerung an das, was sie gemacht hat, aus Enttäuschung über die Zweifel an ihrem Ausstieg, beim Gedanken an eine mögliche Haftstrafe. "Gleichgültig" sei sie gewesen, "das war mein größter Fehler". Aber sie war auch neugierig, auf diese geheimnisvolle Sonnenwendfeier zum Beispiel, mit der alles begann.

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Kommentar von Sven KLICK
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