Clash of Civilizations ?

Huntington  >> "Kampf der Kulturen"

aus Martins Diskussionsbeiträgen v. 200901:

Hallo Gast, 

Huntingtons Theorien haben bei weitem nicht die Tiefenschärfe, um die inneren Konflikte im Irak, in Pakistan oder Afghanistan auch nur annähernd korrekt abzubilden. Die Interpretation von Konflikten als 'Kulturkämpfe' ist darüber hinaus ohnehin meist das Werk von Ideologen. Und Leute, die dann mit der Vulgärversion davon hausieren gehen (wie du) sind die geistigen Partner des Islamismus. 

Zitat Anonymus:
man wird erkennen können, dass die islamische Welt seit Jahrzehnten weit häufiger als alle anderen Kulturkreise an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt ist.

Richtig.

Nur entstehen und eskalieren diese Konflikte nicht an den Bruchlinien vermeintlicher Großkulturen, sondern zu weit überwiegender Zahl im Innern von vermeintlichen Kulturgemeinschaften, wie der Blick in den Nahen Osten eigentlich sofort vor Augen führt: Radikale gegen Gemäßigte, Sunniten gegen Schiiten etc. Zudem scheinen mir die Ursachen für die Gewaltkonflikte in Afghanistan, Ruanda, Pakistan usw. nicht nur sehr heterogen, sondern auch dezidiert politischer Art zu sein - und eben nicht subsummierbar unter eine süffige General-Kulturkampfthese.

Es wäre ja schön, wenn ein einziges Buch ganz alleine die Welt erklären könnte. Leider ist es aber so, dass die Kategorien immer gröber werden, je breiter der Focus ausfällt. Was Huntington als vermeintliche Kulturgemeinschaften vorstellt, sind extrem vereinfachte Konstruktionen, die die inneren Pluralitäten nicht abzubilden vermögen. Das geht soweit, dass man die identitätsstiftende Funktion der Kulturgemeinschaften wohl mit Fug und Recht bezweifeln kann. Und dem entspricht, dass Gewaltkonflikte meistens aus Konfrontationen eng verwandter ethnischer Identitäten resultieren.

Ideologieverdächtig ist die Theorie schon allein aufgrund ihres Zuschnittes als quasi-geschichtsphilosophisches Gesamterklärungsprojekt. Sie zwingt das Einzelphänomen ins Korsett ihres universalen Deutungsanspruches - statt aus der Analyse im Kleinen ein Erklärungsmodell zu entwickeln. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass Huntingtons Thesen vom Anfang der 90er Jahre stammen, dass sie anfangs eingebunden waren in eine spezifische (akademische) Auseinandersetzung mit Fukuyama, dass Huntington selbst in Teilen Korrekturen vollzogen hat und dass seine Theorie von Anfang an auch als Überbau für den (mittlerweile gescheiterten) Neokonservatismus konzipiert wurde.

Ein Kampf der Kulturen findet hauptsächlich in den Köpfen statt - in der politischen Wirklichkeit kann ich davon nichts erkennen.

Grüße von martin


Gast hat folgendes geschrieben:
Türkei - Griechenland (Zypern) 

Gegen die These vom Kulturkampf spricht hier schon die Tatsache, dass der Zypernkonflikt überhaupt erst nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches an Virulenz gewonnen hat. Multiethnizität, die im Zeitalter der Nationalstaaten und ihrer Ideologien eskaliert: Zypern ist ein zutiefst europäisches Konfliktszenario.
Gast hat folgendes geschrieben:
Israel - Palästina 

Der Nahostkonflikt in seiner heutigen ist ein Resultat aus der Gründung des Staates Israel. Die PLO hat dabei niemals als religiöse Organisation Politik gemacht, sondern beansprucht, in säkularer Ausrichtung die Interessen der palästinensischen Nation zu vertreten. Trotz aller Instrumentalisierung des Nahostkonfliktes handelt es sich bis heute um einen Konflikt um Territorien und das historische Erbe von Entrechtung und Vertreibung.
Gast hat folgendes geschrieben:
Pakistan - Indien 

Schon ein Blick in Wikipedia zeigt nicht nur, wie verhängnisvoll sich auch hier das Wirken der Kolonialmächte ausgewirkt hat, sondern auch, dass eine Einordnung des Kaschmirkonfliktes als "islamischer Kulturkampf" der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht wird.
Gast hat folgendes geschrieben:
Russland - Tschetschenien 

Gleiches gilt auch für Tschetschenien. Ursprung des Konfliktes sind nicht ominöse Kulturkämpfe, sondern - viel konkreter - die Spätwirkungen des Zerfalls der Sowjetunion und russische autokratische Kriegspolitik im multiethnischen und konfliktvirulenten Kaukasusraum.

Alle angesprochenen Gewaltkonflikte haben sehr spezifische eigene historische Wurzeln, die sich - zur Bestätigung dessen, was ich schon oben schrieb - keinesfalls unter eine globale Theorie vom 'clash of civilisations' subsumieren lassen.

Grüße von martin  

Gast hat folgendes geschrieben:
Deiner Argumentation zu Folge ist es also Zufall, dass es so zahlreiche Auseinandersetzungen innerhalb und mit der islamischen Zivilisation gibt. 

Dass die Stabilität im Nahen Osten in Trümmern liegt ist kein Zufall, sondern verdankt sich zum großen Teil politischen Fehlentscheidungen des Westens, deren Tragweite an der Steuerbarkeit von Machtblöcken nach Kriterien menschlicher Vernunft im Grundsätzlichen zweifeln lässt. Des Weiteren haben die Konflikte eben genau nicht den Charakter einer Auseinandersetzung mit einer als homogen angenommenen "islamischen Zivilisation". Eine solche postulierte Homogenität wird ja schon in dem Moment hinfällig, in dem man die Binnenkonflikte in der islamischen Welt registriert.

Gast hat folgendes geschrieben:
Du glaubst, mit deinen Erklärungen tiefer zu schürfen als jene, die in ihrer Interpretion die Mentalitäten der Zivilisationen einfließen lassen. 

Die Verfechter der Theorie von einer universalen Konfrontation der Zivilisationen lassen kulturelle Mentalitäten nicht "einfließen", sondern machen sie - in Form simplifizierter Stereotypen - zum Dreh- und Angelpunkt ihres Theorieentwurfes. Die damit einhergehende Entpolitisierung und Enthistorisierung von Deutungsangeboten sowie das Ausblenden von Interdependenzen politischer Entscheidungen zugunsten einseitiger Schuldzuweisungen halte ich in der Tat nicht nur für wenig sachgerecht, sondern für kompletten Irrsinn.

martin  200901  >> Diskussion

 

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